Offener Brief an das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW)

 

Sehr geehrter anonymer Verfasser, sehr geehrte anonyme Verfasserin des Statements zu BDS Austria des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands,
 
aufgrund der österreichischen Vergangenheit und Gegenwart steht außer Frage, dass eine Institution wie das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstand (DÖW) eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllt. Der langjährige ehemalige Bürgermeister von Wien, Michael Häupl, bezeichnete das DÖW anlässlich dessen 40jährigen Bestehens als „eine Art von geschichtlichem Gewissen“ Österreichs. (1) Nicht zuletzt insofern geht der dokumentarische, wissenschaftliche und bildungspolitische Auftrag des DÖW mit einer hohen gesellschaftlichen Verantwortung einher. Als BürgerInnen eines demokratischen, postfaschistischen Staates möchten wir meinen, dass das DÖW diesem gesellschaftlichen Auftrag mit einem Mindestmaß an wissenschaftlicher Gründlichkeit und Objektivität nachkommt. Bedauernswerterweise ist dies jedoch in Bezug auf die BDS-Bewegung keineswegs der Fall.
 
Seit geraumer Zeit nun – auf jeden Fall seit Frühjahr 2018 – macht Ihre Stellungnahme zu BDS Austria unter der Hand die Runde: Sie verschicken diese auf Anfrage an jene Interessierten, die darum bitten, und an (nicht näher definierte) Medien. Es wird im Folgenden davon abgesehen, breiter darauf einzugehen, warum Sie eine allen zugängliche Veröffentlichung auf Ihrer Webseite und damit eine transparente und demokratische Herstellung von Öffentlichkeit zum Thema BDS scheuen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass anderswo bereits durchaus sinnvoll erscheinende Mutmaßungen über die zögerliche Veröffentlichung eines ähnlich schlecht recherchierten und aus sämtlichen Kontexten gerissenen Statements aus Ihrem Haus angestellt wurden. (2) Stattdessen wenden wir uns mit der Frage direkt an Sie: Was hindert Sie an der Veröffentlichung Ihrer Stellungnahme zu BDS Austria?
 
Hindert Sie vielleicht die Tatsache, dass Sie Ihrer Analyse, „durchaus nachweisbare“ Spekulationen voranstellen, ohne diese nachzuweisen?
 
Hindert Sie vielleicht die Tatsache, dass Sie sich in Ihrer Stellungnahme mehrfach des im Kontext von Palästina-Aktivismus geradezu reflexhaften „Whataboutism“ bedienen?
 
Hindert Sie vielleicht die Tatsache, dass Sie in Bezug auf Statements der BDS Kampagne im Allgemeinen und von BDS Austria im Speziellen – seien es grundsätzliche Richtlinien, spezifische Stellungnahmen oder Protestaktionen – eine äußerst selektive Wahrnehmung und dementsprechend selektive, man könnte auch geradeheraus dekontextualisierte Wiedergabe an den Tag legen?
 
Hindert Sie vielleicht die Tatsache, dass Ihre Diffamierung von BDS (Austria) als „antisemitisch“ mit dem keinesfalls unabhängigen, wissenschaftlichen, sondern politisch höchst tendenziösen 3D-Modell des ehemaligen israelischen Ministers und „extremen Zionisten“ (3) Natan Sharansky steht und fällt? Die Methode einer sich selbst untersuchenden und beurteilenden politisch-ideologischen Instanz erinnert in ihrer Absurdität entfernt an die aktuelle FPÖ-Historikerkommission, die sich wohl selbst einen Persilschein erstellen wird. (4)
 
So oder so erlauben wir uns im Folgenden, proaktiv und öffentlich auf einige der von Ihnen exklusiv verbreiteten falschen Aussagen zu reagieren bzw. diese klarzustellen, sodass jede Interessierte und jeder Interessierter sich selbst ein Bild machen kann.
 
1. Ausschließlich Produkte aus völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen zu boykottieren ist praktisch so gut wie unmöglich. Einerseits wurden und werden diese oft irreführenderweise als „Made in Israel“ gekennzeichnet. Dagegen erließ die Europäische Union Ende 2015 eine Richtlinie, die eine korrekte Kennzeichnung als Produkte aus israelischen Siedlungen für den europäischen Markt vorschrieb. Da deren Umsetzung jedoch kaum kontrolliert wird, ist fraglich, wie wirksam diese tatsächlich ist. (5) Darüber hinaus profitiert Israels Wirtschaft massiv und in vielfachen Formen von der Aufrechterhaltung der Besatzung und Unterdrückung der PalästinenserInnen. (6) Schließlich stellt sich die berechtigte Frage, warum Produkte aus den illegalen Siedlungen boykottiert werden sollen und nicht gleich der Staat und dessen Institutionen, die diese Siedlungen überhaupt erst geschaffen haben bzw. deren Existenz laufend unterstützen und damit ermöglichen?
 
2. Apropos staatliche bzw. staatlich finanzierte Institutionen – gegen die Veranstaltung mit Anita Shapira an der Diplomatischen Akademie im Dezember 2015 wurde zuallererst deswegen protestiert, weil diese vom „Center for Israel Studies“ mitveranstaltet wurde, welches unter anderem von der israelischen Botschaft in Österreich finanziert wird. (7) Dadurch erfüllte die Veranstaltung die im Übrigen sehr detaillierten Richtlinien der BDS-Kampagne für den akademischen Boykott. (8) Darüber hinaus war Anita Shapira nicht nur an der Tel Aviv University (TAU) beschäftigt, sondern hatte diverse repräsentative Funktionen inne so beispielsweise als Dekanin der Fakultät für Geisteswissenschaften. (9) In diesem Kontext auf die enge Verflechtung der TAU mit dem israelischen Besatzungsregime hinzuweisen, wie wir es in unserer Protestnote zur Veranstaltung taten, halten wir für geboten. Ob bzw. dass an der TAU auch KritikerInnen der israelischen Politik beschäftigt sind, ist übrigens völlig irrelevant für den Boykott, da es sich um einen institutionellen Boykott handelt. Dessen ungeachtet weist der BNC (das palästinensische BDS National Commitee) darauf hin, dass zu sogenannten „common sense boycotts“ von einzelnen AkademikerInnen (egal welcher Herkunft und institutioneller Zugehörigkeit) aufgrund von deren Komplizenschaft, Unterstützung von oder Verantwortung für Völkerrechts- oder Menschenrechtsverletzungen aufgerufen werden kann.
 
3. Weder BDS Austria noch die BDS Kampagne leugnen die Entstehung des Zionismus im Kontext des europäischen Antisemitismus. Wir leugnen jedoch auch die Entstehung des Zionismus vor dem Hintergrund des europäischen Kolonialismus nicht, über die sich das DÖW gänzlich ausschweigt. Wie könnten wir dies auch leugnen, wo doch die zeitgenössischen kolonial-rassistischen Einflüsse so deutlich sind: Woher hatte Theodor Herzl wohl die Idee, einen jüdischen Nationalstaat in Uganda zu errichten? Warum sprachen und schrieben Vordenker des Zionismus wie etwa Max Nordau von der „jüdischen Kolonisation“ Palästinas, von bestehenden und auszuweitenden „jüdischen Kolonien“ in Palästina? (10) Im Übrigen gibt es mittlerweile zahlreiche hervorragende und äußerst differenzierte wissenschaftliche Aufarbeitungen zum Zusammenspiel von (internalisiertem) Antisemitismus und Rassismus sowie europäischem Kolonialismus bei der Entstehung der zionistischen Ideologie. Diese Arbeiten berücksichtigen oft insbesondere auch die vergeschlechtlichten Manifestationen und Dimensionen dieses Zusammenspiels sowie die ambivalente Position von europäischen Juden und Jüdinnen als zugleich von Rassismus betroffen und Rassismus ausübend. (11) Die Sache mit dem Zionismus und seiner Geschichte ist also komplexer als Sie als zuständige/r „Experte/Expertin“ des DÖWs diese darstellen. Über die subjektiven Beweggründe der Verfasserin bzw. des Verfassers des Statements, den LeserInnen diese Komplexität vorzuenthalten, soll hier keine Aussage getroffen werden. Wir hoffen jedenfalls, dass es subjektive Beweggründe sind und kein objektiver Mangel an historischem Wissen, der in einer Institution wie dem DÖW gleichermaßen fehl am Platz wie bedauernswert, wenn nicht sogar gefährlich wäre.
 
4. Dass es sich bei der Verwendung des Begriffs „Apartheid“ bzw. „Apartheidstaat“ in Bezug auf Israel weder um eine faktisch unhaltbare Dämonisierung, noch zwingenderweise um eine Referenz auf das südafrikanische Apartheidsregime handelt, sondern vielmehr um die erwiesenermaßen gerechtfertigte Anwendung eines juristischen Begriffs bzw. Konzepts auf die Situation in Israel und den von ihm besetzten palästinensischen Gebieten – darauf wurde vonseiten der BDS-Bewegung schon mehrfach hingewiesen. (12) Der in Ihrem Statement zitierte Brief afroamerikanischer Studierendenvertreter (sic!) von 2011, der die Verwendung des Apartheidsbegriffs für Israel zurückweist, wurde von sage und schreibe 16 Personen von der bis dato national und international wohl eher unbekannten „Vanguard Leadership Group“ unterschrieben – wie der von Ihnen verlinkte Artikel selbst angibt. (13) Dem gegenüber verabschiedeten VertreterInnen der größten (!) bundesweiten (!) südafrikanischen (!) Studierendenorganisationen im selben Jahr, also ebenfalls bereits 2011, ein gemeinsames Statement, das ihren historischen Kampf gegen Apartheid mit dem gegenwärtigen Kampf der PalästinenserInnen gegen Apartheid verband und in dem sie zu einem umfassenden Boykott Israels und der Unterstützung der BDS-Kampagne aufriefen. (14) Über die subjektiven Beweggründe der Verfasserin bzw. des Verfassers des DÖW-Statements, die von ihm oder ihr angeführten Quellen nicht aufmerksam zu lesen und auf ihre Relevanz zu prüfen, soll hier keine Aussage getroffen werden. Wir hoffen jedenfalls auch in diesem Fall, dass diese Beweggründe subjektiv sind und keinen objektiven Mangel an Genauigkeit bei der Recherchetätigkeit darstellen, der in einer Institution wie dem DÖW gleichermaßen fehl am Platz wie bedauernswert, wenn nicht sogar gefährlich wäre.
 
5. Das Statement des DÖW zu BDS Austria unterstellt uns in der Passage zum Zitat von David Ben Gurion, BDS Austria scheue nicht vor einer „eklatanten Falschbehauptungen“ zurück und habe das Zitat verfälscht. Als Fußnote verweist das Statement auf ein Posting von Karl Pfeiffer, einem ehemaligen Palmach-Militanten, in der Onlineplattform hagalil. Fakt ist, dass das besagte Zitat aus einem Brief Ben Gurions an seinen Sohn aus dem Jahre 1937 stammt. (15) Karl Pfeiffer und andere behaupten, das Zitat würde im Original das genau Gegenteil beinhalten: „We do not wish, we do not need to expel the Arabs and take their place…”. Der über dem Verdacht sich für die Rechte der PalästinenserInnen einzusetzen stehende israelische Historiker und Zionist Benny Morris schrieb zu diesem Problem 2011: „The problem is that the handwritten page by Ben-Gurion sports a crossed-out line, which leaves the text saying starkly: ‚We must expel Arabs and take their places.‘ But if one deciphers what is written in the crossed-out section (as was done by experts in the IDF Archive, [Hervorhebung durch BDS Austria] where it is deposited), one emerges with the full sentence running: ‘We do not wish and do not need to expel Arabs …’”. (16) Nun wird wohl historisch nie restlos zu klären sein, wer die betreffende Passage im Original geändert hat. Betrachtet man jedoch die Taten, die den nun so oder so gemeinten Worten folgten, so zeigt sich ein klares Bild. Dass die PalästinenserInnen im Vorfeld und im Zuge der Gründung Israels vertrieben wurden, bezweifeln heute kaum noch ernstzunehmende ZionistInnen selbst.
 
6. Wann und wo BDS Austria den „Topos von Israel als Kindermörder“ bedient hätte, bleibt in Ihrem Statement undokumentiert. Stattdessen flüchtet sich der Verfasser bzw. die Verfasserin erneut in die Bemühung, Vereine zu diffamieren, die die BDS-Kampagne unterstützen, und die nachweislich falsche Darstellung vom „unwidersprochenen“ Skandieren-Lassen bosnischer Hooligans auf einer Demonstration zu wiederholen. (17)
 
7. Um nicht in allzu simplifizierten „Whataboutism“ zu verfallen, gesteht der Autor bzw. die Autorin des Statements BDS schließlich zu, eine Kampagne zu einem bestimmten Thema bzw. mit einem bestimmten Anliegen zu sein. Welchen Zusammenhang der faschistische, industrielle Massenmord an Millionen europäischer Jüdinnen und Juden mit dem Fakt hat, dass der Staat Israel den PalästinenserInnen elementare Menschenrechte verweigert, bleibt besagter Autor bzw. besagte Autorin den LeserInnen jedoch schuldig. Das nazifaschistische Menschheitsverbrechens als Argument für die Verweigerung simpelster Menschenrechte für einen bestimmten Bevölkerungsteil dieser Welt, nämlich PalästinenserInnen zu instrumentalisieren, stellt in Wirklichkeit eine infame Verhöhnung der Opfer dieses Verbrechens dar – Opfer, deren Andenken das DÖW schützen und wahren will.
 
8. Unsere Debatte mit Doron Rabinovici ist auf Facebook detaillier nachzulesen; der Versuch diese als Ablehnung einer friedlichen Lösung zu interpretieren, skurril. Wir überlassen es den LeserInnen, sich selbst ein Bild davon zu machen. Die „Würdigung“ eines Friedensnobelpreises für ein Abkommen, das 25 Jahre später immer noch keinen Frieden gebracht hat und während dessen Verhandlungen Israel weiter ungehemmt völkerrechtswidrige Siedlungen gebaut hat, um eben dieses Abkommen in Folge zu erschweren, wenn nicht sogar zu unterminieren, kommentieren wir an dieser Stelle nicht weiter.
 
Abschließend möchten wir den Verfasser bzw. die Verfasserin des DÖW-Statements zu BDS Austria noch einmal ganz direkt fragen: Was ist an der Forderung gleicher Rechte für alle in Palästina/Israel lebenden Menschen, gleich welcher Religion oder ethnischer Zugehörigkeit, perfide? Was ist an der Forderung der Beendigung von staatlichem und paramilitärischem Landraub und Vertreibung perfide? Was ist an der Forderung, dass die Geflüchteten gemäß UN-Resolution 194 zurück in ihre Heimat dürfen, antisemitisch, was daran perfide?
 
In der Hoffnung auf öffentliche Antworten
verbleiben wir mit widerständigen Grüßen,
 
die AktivistInnen von BDS Austria
 
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(5) Vgl. Interview mit dem Völkerrechtsexperten François Dubuisson im luxemburgischen Tageblatt vom 27.11.2017, Seite 10-11 (online unter https://www.pressreader.com/luxembourg/tageblatt-luxembourg/20171127/281500751564277).
(6) Die Gewinne, die die israelische Militärindustrie jüngst durch die brutale Niederschlagung der Rückkehrrecht-Demonstrationen in Gaza machte, seien hier nur als ein prominentes Beispiel erwähnt: https://enhamushim.files.wordpress.com/2018/06/report-with-covers1.pdf
(10) Max Nordau, Der Zionismus (1902), in: Max Nordau’s Zionistische Schriften, hrsg. vom Zionistischen Aktionskomitee, Köln/Leipzig: Jüdischer Verlag 1909, S. 18-38, hier S. 30
(11) Zum Beispiel Daniel Boyarin, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley/ Los Angeles: University of California Press 1997; Todd Samuel Presner, Muscular Judaism. The Jewish body and the politics of regeneration, London/New York: Routledge 2007; Christian Davis, Colonialism, Antisemitism, and Germans of Jewish Descent in Imperial Germany, Ann Arbor: University of Michigan Press 2012.

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