„Did not happen in a vaccuum“ – Dekontextualisierung als Herrschaftsinstrument
Am Dienstag, den 24. Oktober 2023 hat der UN-Generalsekretär Antonio Guterres es nach 18 tägiger Dauerbombardierung des Gazastreifens und mehr als 5700 Todesopfern[i], der Großteil davon Frauen und Kinder, endlich gewagt, Israel zu kritisieren[ii]. Dabei hat er auch erwähnt, dass der Angriff und die Geiselnahmen der Hamas am 07. Oktober „nicht im luftleeren Raum“ entstanden seien. Er bezog sich damit auf die jahrzehntelange israelische Besatzung. „Nach dem 7. Oktober gibt es keinen Platz mehr für eine ausgewogene Position“, konterte unmittelbar darauf der israelische Außenminister in den USA[iii]. Israels UNO-Botschafter Erdan meinte, es sei die Zeit gekommen „ihnen (=der UN) eine Lektion zu erteilen“[iv], Guterres wurde zum Rücktritt aufgerufen und aufgrund seiner Äußerungen würde Israel sich künftig weigern, UNO-Mitarbeier*innen israelische Visas zu erteilen.
Die heftige Reaktion Israels zeigt auf, dass Guterres in seinem Versuch, eine ausgewogene Haltung einzunehmen, einen Tabubruch begangen hat. Israel, das um seine selbstdefinierte Opferrolle und sein langjährig propagiertes Image als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ bangt, kann und will offenbar nicht zulassen, dass der historische Kontext in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückt. Auch für die österreichischen Mainstream-Medien und Politiker:innen aller Parteien beginnt der Konflikt erst am 7.10.2023! – Selbst in einem neutralen Land wie Österreich soll es keinen Platz für eine ausgewogene Position geben. Wir nehmen den heutigen Staatsfeiertag zum Anlass, um Österreich an sein historisches Versprechen vom 26. Oktober 1955 zur „immerwährenden Neutralität“ zu erinnern!
Was Israel derzeit in Gaza anrichtet ist laut dem israelischen Holocaust- und Genozidforscher Raz Segal ein Genozid, „wie er im Lehrbuch steht“.[v] Um zu verstehen wie es dazu kommen konnte, dass eine Gesellschaft bereit und Willens ist, ein anderes Volk sprichwörtlich auszulöschen, genügt ein Blick auf die Entwicklungen und Ereignisse der letzten Monate[vi]: Israels rechte Regierung, die rassistischste, fundamentalistischste und fanatischste Regierung seiner Geschichte, hat in den letzten Wochen und Monaten täglich Palästinenser*innen ermordet, es kam zu zahlreichen Pogromen[vii] (ganze Städte wurden nachts von Siedler*innen unter Aufsicht des Militärs niedergebrannt), das Flüchtlingslager (!) Jenin wurde in einer beispiellosen sogenannten „Militäraktion“ mit Luftangriffen und Panzern dem Erdboden gleich gemacht[viii], Christ*innen und Muslim*innen wurden systematisch davon abgehalten, ihre religiösen Praktiken auszuüben und dabei beschimpft und bespuckt.[ix] Und seit etwa mehreren Wochen ist es für Muslim*innen nicht mehr möglich, die Al Aqsa Moschee zum Gebet zu betreten. [x] Man stelle sich vor, eine Besatzungsmacht würde den Vatikan besetzen und den Christ*innen verbieten, den Petersdom zu betreten, dies wäre nicht nur ein Angriff auf die im Vatikan lebenden Menschen, sondern auf alle Christ*innen weltweit!
Indem die Gegenwart von der Vergangenheit des Konfliktes abgekoppelt wird, können beide Parteien als einander ebenbürtig – symmetrisch – dargestellt werden. Dass Palästinenser*innen seit 75 Jahren Vertreibung und Besatzung erdulden, dass der Gazastreifen seit 17 Jahren vom See, Land und der Luft abgeriegelt wird und somit zum größten Freiluftgefängnis der Welt[xi] wurde, kommt in diesem Narrativ nicht vor.
Apartheid – Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Mehr als 70 Prozent[xii] der in Gaza lebenden Menschen sind Flüchtlinge aus mehr als 500 Städten und Dörfern, die im Zuge der Staatsgründung 1948 ethnisch gesäubert wurden.[xiii] Dass 75 Jahre nach der Nakba nun wieder mehr als 1 Million Palästinenser:innen zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen werden, ist für diese Menschen nicht nur retraumatisierend, sondern stellt womöglich das schlimmste Verbrechen dieses Jahrhunderts dar. Und offenbar kann dies passieren, weil privilegierte, westliche Mächte glauben, anderen Menschen das Menschsein absprechen zu können[xiv]. Die Geschichte des Konfliktes wird uns dabei wie eine Chronologie linear ablaufender Ereignisse dargestellt, sei es nun in Geschichtsbüchern, in den Medien oder im akademischen Diskurs. Doch die Zeit vergeht in sich bewegenden Körpern anders als in stillstehenden. Dieses relative Zeitverständnis von Albert Einstein hat sich bisher noch immer nicht in unser Geschichtsverständnis eingeschrieben. Doch der sich die Geschichte als statisch ablaufenden Prozess vorstellende Mensch verkennt sein eigenes Potential, in die Geschichte eingreifen zu können, sie verändern zu können. Vorausgesetzt er oder sie beginnt sich zu bewegen. BDS ist ein Mittel mit dem jede und jeder Mensch auf der Welt einen gewissen Einfluss auf die Geschichte nehmen kann.
Einen solchen Prozess der Bewegung stellt auch der südafrikanische Kampf gegen die Apartheid dar. In der unbewegten Geschichtsschreibung und medialen Repräsentation dieses Kampfes gibt es die verkürzte Darstellung einer friedfertigen südafrikanischen Zivilgesellschaft mit der sich die ganze Welt solidarisiert hat, um die Südafrikaner:innen aus den Fesseln der Apartheid zu befreien. Dass die Apartheid Südafrikas bis zuletzt von Ländern wie Deutschland (BRD), Israel und den USA, mittels propagandistischer medialer Darstellungen legitimiert wurde, wird dabei gerne ausgespart. Auch dass der südafrikanische Widerstand (ANC) einen bewaffneten Flügel hatte, den Nelson Mandela selbst leitete, kommt in diesem Narrativ nicht mehr vor[xv]. Heute würde den späteren Friedensnobelpreisträger wohl niemand mehr als „Terrorist“ bezeichnen. Laut Paolo Freire beginnt Gewalt bereits mit dem Etablieren eines Verhältnisses von Unterdrückung. Noch nie in der Geschichte wurde Gewalt von den Unterdrückten initiiert. Gewalt wird durch jene initiiert die unterdrücken, ausbeuten, die andere nicht als Menschen sehen und wahrnehmen können. [xvi]
Krieg mit Worten
Die Normalisierung von Gewalt, Krieg und Völkermord ist eine propagandistische Methode, um jeglichen Widerstand gegen herrschende Unterdrückungsverhältnisse im Keim zu ersticken. In unsere Köpfe soll die Idee eingepflanzt (=indoktriniert) werden, dass eine diplomatische Lösung dieses Konfliktes nicht möglich ist. Am 07.10. nimmt der ORF Journalist Martin Thür den Genozid in Gaza bereits vorweg, indem er dem österreichischen Außenminister Schallenberg folgende Frage stellt: „Es muss jedem klar sein, dass Israel jetzt hart zurückschlagen wird. Gerade im Gazastreifen, von wo die Angriffe kommen. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Hamas das in Kauf nimmt, dass am Ende wieder die Zivilbevölkerung im Gazastreifen den Preis dafür zahlen wird?‘(ZIB 2 vom 07.10.2023, Minute 17).[xvii]
Laut Antonio Gramsci[xviii] wird Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur durch Zwang erzeugt. Die Menschen sollen davon überzeugt werden, dass sie in der „besten aller möglichen Welten“ lebten. Kapitalistische Herrschaft würde so durch die Herstellung eines Konsenses und durch Hegemonie in der Zivilgesellschaft legitimiert, wie etwa in der Arbeitswelt, im Bildungswesen oder in den Mainstream-Medien. Doch welches Weltbild liegt einer Gesellschaft zugrunde, die einen Genozid negiert und legitimiert, der vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet?
Es ist das unreflektierte, koloniale und eurozentristische Weltbild des 19. und 20. Jahrhunderts[xix]. Das koloniale Weltbild Israels führt auch zu einer Entmenschlichung der Palästinenser:innen. So begründete der israelische Verteidigungsminister Galant das Abschneiden lebenswichtiger Ressourcen in Gaza (Wasser, Strom, Hilfsgüter, Nahrung, Medizin, Treibstoff…) mit der Aussage: “Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff — Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln dementsprechend.”[xx] Die Entmenschlichung der Palästinenser*innen hat in Israel eine lange Tradition, sie dient hier der Rechtfertigung besonders brutaler „Vergeltungsmaßnahmen“ und das Absprechen der Menschlichkeit scheint auch notwendig zu sein, um Unterdrückung und Apartheid zu rechtfertigen. Der hegemoniale Anspruch soll mit aller Gewalt durchgesetzt werden und die Medien haben den Auftrag, diese Ansprüche zu legitimieren. Der kürzlich verstorbene Universalgelehrte Karam Khella beschrieb den Krieg als „Mittel einer Politik von Herrschaft und Unterdrückung“: Krieg jederzeit, überall, mit allen Waffen. Krieg vor allem in unseren Köpfen, Krieg in unseren Fernsehern, Krieg in unseren Herzen.[xxi]
BDS als Ausdruck eines historischen Optimismus
Als sich bewegende Aktivist:innen hat Geschichte für uns keinen Anfang und kein Ende. Sie liegt nicht hinter uns als Vergangenheit, sondern liegt vor uns als historischer Optimismus. Der palästinensische Widerstand ist als Kampf um unser aller Menschlichkeit zu verstehen. So hat Nelson Mandela beispielsweise gesagt: „Wir wissen nur zu gut, dass unsere Freiheit ohne die Freiheit der Palästinenser unvollständig ist.“[xxii]
Tatsächlich müssen wir uns heute die Frage stellen, welchen Wert die Menschenrechte im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts noch haben werden und ob sie tatsächlich im gleichen Umfang für alle Menschen gelten werden. Der Kolonialismus prägt die globalen Machtverhältnisse bis heute und er hat über Jahrhunderte hinweg das Sein und Bewusstsein der Unterdrücker und Unterdrückten geprägt. Deshalb herrscht im Bewusstsein vieler Menschen nicht Optimismus, sondern Pessimismus. Uns soll glauben gemacht werden, dass jeder Widerstand zwecklos ist. Demonstrationen und Veranstaltungen werden verboten, Aktivist:innen eingeschüchtert und diffamiert, Jobs und Aufträge entzogen. Das Unrecht mag sich vielleicht heute und morgen, aber gewiss nicht für alle Zeit halten! Wir folgen dem Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft vom 9. Juli 2005, die sich mit drei zentralen Forderungen an alle Menschen mit Gewissen weltweit wandte:
1) Das Ende der Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes und ein Abriss der Mauer.
2) Die vollkommene rechtliche Gleichstellung der arabisch-palästinensischen Bürger*innen Israels.
3) Die Anerkennung der Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren wie es in der UN-Resolution 194 vereinbart wurde.
Bis Israel und seine Verbündeten diesen Forderungen nachkommen, rufen wir zu weitreichenden Boykott- und Kapitalentzugsmaßnahmen auf wirtschaftlicher, kultureller und akademischer Ebene auf und fordern umfassende Sanktionen zur Einhaltung von Menschen- und Völkerrecht.
Stoppt den Genozid in Gaza!
Boycott Apartheid – Made in Israel!
Free Palestine!
[i] https://english.wafa.ps/Pages/Details/138609
[ii] https://kurier.at/politik/ausland/keine-visa-fuer-uno-vertreter-israel-nach-guterres-kritik/402645818
[iii] https://www.tagesschau.de/ausland/guterres-nahost-streit-100.html
[iv] https://kurier.at/politik/ausland/keine-visa-fuer-uno-vertreter-israel-nach-guterres-kritik/402645818
[v] https://jewishcurrents.org/a-textbook-case-of-genocide
[vi] https://www.aljazeera.com/news/2023/10/9/whats-the-israel-palestine-conflict-about-a-simple-guide
[vii] https://www.fr.de/politik/israel-huwara-pogram-terror-proteste-netanjahu-gewalt-regierung-extremismus-analyse-92135139.html
[viii] https://www.medico.de/blog/israelische-unsicherheitspolitik-19144
[ix] https://www.juancole.com/2023/10/extremist-christians-jerusalem.html
[x] https://www.aljazeera.com/news/2023/10/4/israeli-settlers-storm-al-aqsa-mosque-complex-on-fifth-day-of-sukkot
[xi] https://diem25.org/yanis-varoufakis-zur-gaza-katastrophe-selektive-empoerung-und-kollektive-verantwortung/
[xii] https://www.unrwa.org/gaza15-years-blockade
[xiii] https://www.youtube.com/watch?v=qxQNk81ELbI
[xiv] https://moderndiplomacy.eu/2023/10/23/the-dehumanization-of-palestinians-the-gaza-crisis-and-the-urgency-for-peace/
[xv] https://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/southafrica/8304153/Nelson-Mandelas-Spear-of-the-Nation-the-ANCs-armed-resistance.html
[xvi] https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/16/why-i-believe-the-bds-movement-has-never-been-more-important-than-now
[xvii] https://www.youtube.com/watch?v=0UmsEDBEfYc
[xviii] https://freiheitslexikon.de/kulturelle-hegemonie/
[xix] https://mondediplo.com/2022/09/02palestine
[xx] https://orf.at/stories/3334880/
[xxi] https://www.tup-verlag.com/products/imperialismus-heute