„BDS ist schon längst überfällig“ | BDS Rede | Israeli Apartheid Week 2022

Wir versammeln uns heute in der Heimat des Marketingexperten Franz Krausz. 1936, inmitten der Mobilisierung für die jüdische Auswanderung aus Europa in die kolonialen Siedlungen in Palästina, entwarf er ein Plakat mit der Aufschrift „Visit Palestine“. Es richtete sich zunächst an ein westliches, aschkenasisches Publikum zu einer Zeit, in der die zionistische Propaganda innerhalb der jüdischen Gemeinde mit einer Legitimationskrise konfrontiert war. Krausz‘ Design mit seiner farbenprächtigen Darstellung des Felsendoms, eingerahmt von einer Silhouette eines fruchtbaren Baums, wird Jahrzehnte später, um die zweite Intifada herum, von den Palästinenser:innen wiederbelebt und reclaimed. Pro-palästinensische Aktivist:innen haben ihrer Kreativität bald freien Lauf gelassen und erstellten Versionen des Plakats mit direktem Bezug zur israelischen Apartheid.

Über 8 Jahrzehnte später findet das Plakat von Franz Krausz seinen Weg zurück nach Österreich. Unbekannte Aktivist:innen haben in Wien die überarbeitete Illustration aufgehängt, auf der die israelische Expansions- und Annexionsmauer den Blick vom Ölberg versperrt. Der ursprüngliche Marketing-Slogan wurde in „Visit Apartheid“ korrigiert und das Plakat mit dem offiziellen Logo der Stadt Wien versehen. Neben vielen anderen haben wir, die österreichische BDS-Gruppe, damals Ende August 2021 ein Bild dieses Plakats auf der Straße in den sozialen Medien geteilt, und hatten auch sarkastisch kommentiert, wie froh wir doch sind, dass auch die Stadt Wien die Apartheid anerkennt und sich öffentlich dazu bekennt.

Wenn man durch die geschichtsträchtigen Straßen Wiens spaziert, die einstige Heimat von Theodor Herzl, dem Begründer der Ideologie des Zionismus, stößt man auf viele Sehenswürdigkeiten, die nicht nur die Geschichte, sondern auch die gegenwärtige Politik der Stadt Wien offenlegen. Auch wenn ein tourist guide einem das Büro der Vereinten Nationen und das weltoffene Flair der Stadt zeigen würde oder auf die verfassungsrechtlich verankerte Neutralitätserklärung verweisen würde, stolpert man in den imperialen Alleen und Plätzen der Innenstadt auch auf Straßenschilder und weitere Denkmäler zu Ehren Theodor Herzls. Wenn man noch weiter in der Stadt geht, bleibt man auch beim Anblick grandioser Statuen und weiterer Monumente stehen, die Karl Lueger, dem Vater des modernen politischen Antisemitismus, oder Prinz Eugen von Savoyen ehren, der alles, was er als muslimisch oder jüdisch markiert hatte, niederbrannte — von Belgrad bis Sarajewo.

Im November 2021 erhielt ein Aktivist von BDS Austria eine rechtliche Mitteilung von derselben Stadt Wien, die eine Klage wegen besagten Social-Media-Beitrags eingereicht hatte. In dieser Mitteilung wird behauptet, dass dieser Post verleumderisch sei. Die Erklärung dazu lautet, dass die Gemeinde Wien nicht in Verbindung mit – nein, nicht Apartheid – sondern nicht in Verbindung mit der antirassistischen BDS-Bewegung gebracht werden will! Alle 100 Abgeordneten des Wiener Gemeinderates haben gemeinsam ihre Schwerpunkte gesetzt und ein klares Bekenntnis zu ihren Werten abgegeben. Dabei haben sie alle politischen Barrieren durchbrochen, von den rechtsextremen Politiker:innen der von Nazis gegründeten Parteien bis hin zu Linksliberalen und der Sozialdemokratie. In einer Gemeinderatssitzung im Juni 2018 stellte ein Abgeordneter, der auch Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft ist, einen Gesetzesentwurf gegen die Menschenrechtskampagne BDS vor, dem von allen Mitgliedern zugestimmt wurde. Seitdem wurde unserer BDS-Gruppe die Nutzung öffentlicher Räume untersagt. Mit diesem Beschluss kam natürlich rassistisch geprägte politische Diffamierung einher, wodurch es schwierig geworden ist, überhaupt Veranstaltungen an privaten Orten zu organisieren.  Aktivist:innen von BDS haben daraufhin eine Sitzung des Gemeinderats besucht und unter dem Slogan „BDS ist kein Verbrechen“ gegen das Gesetz protestiert. Der Gesetzesentwurf wurde jedoch bald auch in den Grazer und Innsbrucker Gemeinderäten angenommen und anschließend im Februar 2020 auf ganz Österreich ausgeweitet.

Diese Zusammenarbeit zwischen scheinbar unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums zur Unterbindung der palästinensischen Rechte und zur Förderung des zionistischen Siedlerkolonialismus ist in Wirklichkeit in der politischen Geschichte Wiens nicht unerhört. Kurz nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland 1938 ordnete Hitler die Einrichtung der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ an, die von Adolf Eichmann geleitet wurde. Im Zuge dessen hatte der später hingerichtete hochrangige NS-Kriegsverbrecher Eichmann zahlreiche, gut dokumentierte offizielle Treffen mit Zionisten, um zu besprechen, welche Teile der jüdischen Gemeinde in Nazi-Deutschland (zwangsweise) nach Palästina auswandern sollten und welche eher durch Vernichtung „bewältigt“ werden sollen.

Gehen wir in der Geschichte noch weiter zurück, nämlich in die kaum untersuchte Kolonialität des kaiserlichen Wiens, so stoßen wir unter anderem auf die Menschenzoos – eine lange europaweite koloniale Praxis des „Imports“ von Menschen aus kolonialisierten Nationen, um sie zur Schau zu stellen. Eingesperrt, degradiert, ihrer Menschlichkeit beraubt, für ein weißes Publikum zu beobachten. Es war kein anderer als Theodor Herzl, der ausführliche Berichte über seine Besuche solcher Kolonialausstellungen in Wien hinterlassen hat, in denen er auf groteske Art die ausgestellten Afrikaner:innen lustvoll beschreibt, darunter minderjährige Mädchen. „Menschen aus der Urzeit […] Sie stehen erst am Anfang unserer Geschichte, und an ihnen sehen wir, wo wir doch schon halten, wie viel wir schon wissen, vom Guten und vom Bösen”, schreibt der Gründervater des Zionismus über seine Interaktionen mit den ausgestellten Menschen. Solche Praktiken gehen Hand in Hand mit der ebenfalls kolonialen Argumentation, die er zusammen mit anderen frühen Zionist:innen verwendete, um sich für die Legitimierung des siedlerkolonialen Projekts in Palästina einzusetzen. In einer Stadt, die Herzl und seinesgleichen immer noch ehrt, wird der Protest gegen die israelische Apartheid immer schwieriger. In einer Stadt, die ihn und Seinesgleichen ehrt, wird der Protest gegen die israelische Apartheid umso wichtiger!

Sind wir in dieser Stadt überrascht, in der Nazis und Zionisten zusammengearbeitet haben, um auszuwählen, wer von der jüdischen Bevölkerung am Leben bleiben durfte und wer in den Tod geschickt wurde— sind wir wirklich überrascht, wenn, Jahrzehnte später, die Stadtverwaltung den Nachkommen von Holocaust-Opfern und -Überlebenden verbietet, sich in ihren öffentlichen Einrichtungen gegen Israels Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser:innen auszusprechen? Darunter sind z.B. Ofer Neiman von Boycott from Within. Ebenso wurde Ronnie Kasrils, jüdisch-südafrikanischer Anti-Apartheid-Aktivist und ehemaliger Minister des African National Council, der Auftritt im Wiener Volkskundemuseum verweigert, das – wie der Name schon vermuten lässt – ebenfalls nicht frei von kolonialer Geschichte und rassistischen Praktiken ist, wie das Messen von Nasen und die Klassifizierung von „menschlichen Rassen“.

 

Die – unbegründete – Befürchtung der Gemeinde Wien, dass unser Social-Media-Beitrag in irgendeiner Weise den Anschein erwecken könnte, dass die Gemeinde irgendeine Verbindung zur Menschenrechtskampagne BDS habe, passt also vollkommen in diesen historischen und aktuellen Kontext hinein. Die Verwendung des offiziellen Logos der Stadt Wien ist in diesem Rahmen nur Befürwortern, nicht Gegner:innen der israelischen Apartheid gestattet, wie etwa der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, deren bereits erwähnter Präsident maßgeblich an der Bekämpfung von BDS beteiligt war. Das Hissen der israelischen Fahne im Herzen der Stadt auf dem Dach des Bundeskanzleramts letztes Jahr, nachdem eine Reihe von Protesten gegen die Eskalation der israelischen Aggression gegen Palästinenser:innen verboten wurden, ist nichts als das „Tüpferl aufm i“.

Als Aktivist:innen, die dem Appell von Vertreter:innen der palästinensischen Zivilgesellschaft folgen und Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Apartheid Israel fordern, bis es das Völkerrecht und die universellen Prinzipien der Menschenrechte einhält, werden wir unweigerlich an die rassistischen Geschichten erinnert, die diese Stadt prägen. In unserem Aufruf für Menschenrechte für Palästinenser:innen legt uns die Stadt Wien ein Hindernis nach dem anderen in den Weg, das neuste davon ist diese SLAPP-Klage mit einem Streitwert in Höhe von 35.000€. Trotzdem lassen wir uns nicht aufhalten!

Jetzt, mehr denn je, versuchen europäische Länder ihre Kolonialgeschichte zu beschönigen, während sie weiterhin die Unterdrückung und Kolonisierung palästinensischen Landes unterstützen. Jetzt, mehr denn je, ist es notwendig, dem Appell der Palästinenser:innen zu folgen und zu Boykotten, Desinvestitionen und Sanktionen gegen die israelische Besatzung aufzurufen!

Jetzt müssen wir mehr denn je unsere Stimme erheben – in erster Linie gegen die Verbrechen, die an Palästinenser:innen begangen werden, und gegen die Versuche, sogar gewaltfreie Formen des Protests wie BDS zu unterbinden. Die UNO hat Israel in den Jahren 2020 und 2021 mehr als alle anderen Länder der Welt zusammen (!) verurteilt. Aber wo sind die Sanktionen? Das Recht auf Boykott, d. h. das Recht, sich für BDS-Kampagnen einzusetzen und daran teilzunehmen, wird durch internationale Menschenrechtsverordnungen unterstützt, auf denen die UN-Erklärung zu Menschenrechtsverteidigern basiert. BDS ist nicht nur eine legitime Form des Protests, BDS ist ein moralischer Imperativ, das absolute Minimum für jeden und jede Unterstützer:in der Menschenrechte.

NGOs wie Human Rights Watch und zuletzt Amnesty International erinnern uns an die Menschenrechtsverletzungen der israelischen Besatzung und an das brutale System der Apartheid, das sie gegen das palästinensische Volk eingeführt haben. Erst in dieser Woche hat der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in den besetzten Gebieten dem Human Rights Council einen Bericht vorgelegt, in dem er erklärt, dass die israelische Politik der Definition der Apartheid entspricht. Aber diese Berichte erinnern uns nur daran, was die Palästinenser:innen der Welt schon immer sagen. Boykotte und Aufrufe zu Desinvestitionen und Sanktionen gegen den siedlerkolonialistischen Apartheidstaat Israel sind längst überfällig. Es ist unsere Verantwortung im Westen. Das absolute Minimum.

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